Die Geschichte vom Zuhörer

Langsam schlenderte ich die belebte Einkaufsstraße hinunter. Der Nachmittag neigte sich bereits dem Ende zu und ich bemerkte etwas wehmütig, dass es schon deutlich dunkler war, als noch in der letzten Woche um diese Zeit. Um mich herum sah ich nichts, als dicke Wintermäntel und aus einem nahe gelegenen Einkaufscenter klangen mir bereits die ersten Weihnachtsmelodien entgegen. ‚Noch auf der Beerdigung des Sommers fangen die Leute fröhlich an zu singen‘, dachte ich bei mir und beschleunigte meine Schritte, um schnell aus der Reichweite der Schlittenglocken zu fliehen. Die Leute um mich herum schienen weder mich, noch die Schlittenglocken überhaupt wahrzunehmen. Ich denke, ihre Köpfe waren zu voll, um wegen des verstorbenen Sommers zu trauern. Gerade bemerkte ich ein bunt gekleidetes Kind am Ende der Einkaufspassage, das mit einem zerzausten Straßenmusiker zu sprechen schien als ein anderes Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Schluchzen. Es drang aus einer kleinen Seitengasse. Ich hielt inne und nach kurzem Überlegen, schritt ich bestimmt in die Richtung aus der ich das Geräusch wahrgenommen hatte. Die schmale Gasse war zur Straße hin offen und das Schluchzen kam aus einem dunklen Hauseingang, auf den ich mich nun zubewegte. Noch einmal hielt ich inne. Konnte ich es riskieren den dunklen Raum so ganz alleine zu betreten? Ein weiteres Schniefen aus dem Inneren sagte mir, dass ich musste. Nachdem ich die Tür durchquert hatte, stand ich in einem kleinen Eingangsbereich. Eine alte Theke stand darin, doch der Raum war ansonsten völlig leer. Die kahlen Wände waren von einer blassgrauen Farbe und verliehen dem Zimmer eine unangenehme, kühle Atmosphähre. Die Theke war unbesetzt und die Geräusche kamen aus einem Raum, der am Ende des kleinen Vorzimmers lag. Er war nur durch einen kleinen Vorhang von dem Eingangsbereich getrennt, der ein wenig bedrohlich hin und her wehte als ich eintrat, als wolle er die Menschen in dem Hinterzimmer warnen und mich zurück auf die Straße scheuchen. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Ich durchquerte den kleinen Raum mit wenigen Schritten, holte tief Luft und riss den Vorhang mit einer Armbewegung zur Seite. Was ich sah verblüffte mich: Vor mir saßen in einem weitläufigen Zimmer, eine Frau und ein Mann. Die Frau war gut gekleidet und sah aus, als wäre sie schnurstracks aus einem großen und noblen Börsenbüro in das vor mir liegende Zimmer gefallen. Sie trug einen Hosenanzug und eine lupenreine schneeweiße Bluse. Ihren dicken schwarzen Wintermantel mit Pelzkragen hatte sie noch über ihren Knien liegen, als wäre sie erst vor wenigen Augenblicken hereingeschneit. Doch sie sah in diesem Augenblick kein bisschen, wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau aus. Sie hatte die Traurigkeit auf dem Gesicht stehen und Sturzbäche von Tränen hatten tiefe Spuren in ihrem vorher bestimmt makellos geschminkten Gesicht hinterlassen. Nun starrte sie mich an. Die Traurigkeit auf ihrem Gesicht wurde zu einer Schreckensstarre, die langsam aber sicher blanker Panik wich. „Ich ….. ich musste nur…..ich…“, stotterte sie, bevor sie „Ich hatte hier eine geschäftliche Besprechung.“ herausbekam, aufsprang und den Raum fluchtartig verließ. Irritiert blickte ich ihr erst hinterher und besah mir dann den Mann, der die ganze Zeit reglos sitzen geblieben war und mich nun mit einer Mischung aus Resignation und Neugierde ansah. Er war alt. Ein Rentner, mit eingefallenem Gesicht und Augen, die tief in den Höhlen versteckt waren. Und doch war sein Blick durchdringender, als ein Blick jemals hätte sein können. Er strahlte eine Ruhe aus, die einen glauben ließe, dass man ihm alles anvertrauen konnte. Seine Kleidung war schlicht und gepflegt, aber längst nicht so nobel, wie die der Frau, die uns soeben verlassen hatte. „Was hat sie denn?“ fragte ich den Mann, dessen Blick noch immer auf mich gerichtet war. Er antwortete nicht direkt. Er ließ sich Zeit, schien scharf nachzudenken, bevor er antwortete: „Sie wurde ertappt.“ Diese Antwort half mir kein Stück weiter. Man sollte vielleicht meinen, dass meine erste Frage hätte sein sollen was der Mann mit ihr gemacht habe oder Ähnliches, aber seit dem Augenblick, in dem ich dem Alten das erste Mal in die Augen geblickt hatte, war ich mir sicher, dass er nicht der Grund für die Tränen war. Ich hatte nun viel mehr selber das Gefühl in Erklärungsnot zu sein. „Ich habe das Schluchzen von der Straße aus gehört und wollte helfen.“, versuchte ich mein plötzliches Auftreten zu rechtfertigen. „Vorne war Niemand, dann bin ich einfach rein gekommen.“ Noch immer saß der Mann regungslos da. Er schien nicht einmal ein besonderes Interesse für meine Ausführungen über die unhöfliche Störung zu haben. „Sie kommen alle einfach rein.“, sagte er nur. „So fängt es immer an.“ Noch immer hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach. „Was fängt an?“, fragte ich weiter. Nun schien der Mann beinahe etwas überrascht angesichts meiner Unwissenheit. „Na das Weinen.“, antwortete er, als wäre es das Klarste von der Welt. „Sie kommen alle hierher, um zu weinen. Sie weinen von ihrer Arbeit, ihren Vorgesetzten, ihrem Stress, ihrer vermeintlichen Unfähigkeit und von so vielem mehr.“ Der Mann sah mich an, als würde er dies auch von mir erwarten. „Und dann“, fuhr er fort, „sehen sie auf die Uhr, bekommen einen riesigen Schrecken und rufen, während sie schon loslaufen, dass sie zu spät zum nächsten Meeting kommen.“ Er lächelte, als würde er meine nächste Frage vorausahnen und sagte passend dazu: „Sie selbst erkennen die Ironie nicht.“ Eine Weile lang schwiegen wir. Ich musste mich mit diesem leicht absurden Gedanken vertraut machen. Menschen kamen hier her, um von ihren Sorgen zu erzählen und zu weinen? „Dann…“, fragte ich schließlich. „sind sie so etwas wie ein Psychologe?“ Der Mann sah mich einen Moment lang beinahe verwundert an und schmunzelte dann. Er antwortet: „Sie sind dem Problem wohl schon dicht auf der Spur, aber merken es noch nicht so recht.“ Sein Blick wurde wieder ernst bevor er weitersprach. „Nein, ein Psychiater leiht sein Ohr nicht kostenlos. Sicher, er hat mehr dazu zu sagen als ich und kann ihnen gewiss besser helfen ihre Situation zu ändern, aber die Meisten die hierhin kommen wollen das gar nicht.“ Sein Blick fixierte nun nicht mehr mich. Er war von mir weggewandert, als habe er vergessen mit wem er redete. Er schien nun in weite Ferne zu blicken und etwas zu betrachten, dass ich nicht sehen konnte. „Sie brauchen nur einen, der ihnen zuhört.“, sagte er nun leiser und versonnen. „Sie brauchen Jemanden, der ihnen zeigt, dass sie nicht so alleine sind, wie es den Anschein hat.“ Wieder schmunzelte er, doch plötzlich schien eine Wolke sich über sein Gesicht zu legen. Er kehrte zu mir zurück, blickte mir erneut mit seinem festen Blick in die Augen und sagte: „Aber jetzt nicht mehr. Die Frau, die soeben gegangen ist, war die letzte die gekommen ist und die Einzige, die noch wiederkam. Wie gesagt, sie bleiben nie lange.“ „Warum nicht?“, fragte ich eindringlich. Ich hatte das beklemmende Gefühl einer Wahrheit auf der Spur zu sein. Ich würde sie gleich zu fassen bekommen, das merkte ich. „Weil ein einfacher Zuhörer nicht in ihre Köpfe passt. Wie kann Jemand ihren Sorgen lauschen und nichts im Gegenzug nehmen? Sie haben das Gefühl mich bezahlen zu müssen, aber dann würde ich nur zu einer weiteren Sorge werden. Es ist mir zuwider, mit ihrer Traurigkeit Geld zu verdienen.“ Er schluckte schwer. „Also lehne ich das Geld ab und irgendwann kommen sie nicht mehr wieder.“ Er machte eine Pause und sah wieder in die Ferne. „Wahrscheinlich ist die Zeit für einfache Zuhörer vorbei.“ Er sprach es mit einer Bestimmtheit aus, die einem Todesurteil glich. Ich saß da wie gelähmt. „Ein Zuhörer ist nur dann zu etwas gut, wenn er das tun kann wozu er bestimmt ist. Still lauschen und einfach da sein. Er würde nie etwas dafür fordern, sondern er tut es, damit es anderen besser geht. Er selbst ist der Statist und er lässt die Bühne immer frei.“ Er sprach mit fester und harter Stimme. Nur für einen Satz wurde seine Stimme weicher. „Das Theater ist schon lange dem Untergang geweiht.“ Er stand auf. Ich schluckte. Er nahm seine Strickjacke, die über seinen Stuhl gehängt war. Ich suchte verzweifelt nach den richtigen Wörtern um ihn aufzuhalten. Er ging zur Garderobe, nahm seinen Stock und seinen Hut. Ich öffnete den Mund. Er schritt langsam durch das Zimmer auf eine Tür zu, die ich vorher nicht bemerkt hatte. War sie überhaupt da gewesen? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, deswegen sagte ich nur: „Warten sie.“ Er erreichte die Tür drehte sich ein letztes Mal zu mir um und lächelte. „Sie sind wohl der Einzige, der sich hierher verirrt hat und mich nicht braucht.“, sagte er, nickte mir zu und schritt dann durch die Tür. Ich hörte seine Schritte noch eine Zeit lang, bevor sie verklangen. Doch ich konnte nicht anders. Ich konnte seine Kapitulation nicht hinnehmen. Ich sprang auf, durchquerte den Raum mit wenigen Schritten und stieß die Tür auf. Nur mit Mühe kam ich rechtzeitig zum Stehen. Vor mir lag ein kleiner Besenschrank, in den keine zwei Männer hineingepasst hätten. Der Alte war spurlos verschwunden.

 


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